Rechtswidrigkeit und Rechtfertigungsgründe
Die Rechtswidrigkeit wird grds. durch die Tatbestandsmässigkeit indiziert. Grundsätzlich ist eine Rechtsgutsverletzung eines anderen rechtswidrig, passiert sie aber beispielsweise in einer Notwehrsituation (Art. 15 StGB) oder Notstandsituation (Art.17 StGB), kann sie gerechtfertigt sein.
Ausserstrafliche- und übergesetzliche Rechtfertigungsgründe
- Einwilligung des Opfers (Erlaubnis an Arzt, dass Bauch aufgeschnitten werden darf)
- Mutmassliche Einwilligung (Bewusstloser Patient hätte vermutlich eingewilligt ärztlich versorgt zu werden)
- Rechtfertigende Pflichtenkollision (Ein Arzt kann nicht 2 Patienten gleichzeitig helfen)
- Wahrung berechtigter Interessen
- Selbsthilfe (Art. 52 OR)
- Besitzschutz (Art. 926 ZGB)
Sobald man einen Rechtfertigungsgrund hat kann die Prüfung abgebrochen werden, denn die Tat ist gerechtfertigt und nicht rechtswidrig.
1. rechtfertigende Notwehr Art. 15
Notwehr nur zum Schutz von Individualrechtsgütern. Notwehr richtet sich direkt gegen Angreifer.
- Tatbestand
- Rechtswidrigkeit
- Rechtfertigende Notwehr
- Notwehrlage (ex post zu betrachten – aus dem nachhinein)
- Angriff durch einen Menschen (oder abgerichtetes Tier)
- Der gerade stattfindet/ unmittelbar bevorsteht (z.B. einnehmen einer Kampfstellung)
- Rechtswidrigkeit des Angriffs (oder Angriff gerechtfertigt (1))
- Abwehr des Angriffs
- Eignung (Ist die Abwehr überhaupt geeignet einen solchen Angriff abzuwehren)
- Erforderlichkeit der Abwehrhandlung (gab es kein milderes Mittel, das den Angriff sicher abgewendet hätte? (2.))
- Verhältnismässigkeit der Abwehrhandlung (War die Abwehr verhältnismässig? (3))
- Handeln mit Abwehrwillen (Ja / Nein)
- Notwehrlage (ex post zu betrachten – aus dem nachhinein)
- Rechtfertigende Notwehr
- Schuld
- ggf. sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
(1) Rechtswidrigkeit des Angriffs (oder Angriff gerechtfertigt)
Bsp. Bei Angriff durch ein Kind gilt kein «stand your ground».
Ist der Angriff durch z.B. Notwehr bereits gerechtfertigt, kann man keine Notwehr mehr anwenden.
(2) Erforderlichkeit der Abwehrhandlung (gab es kein milderes Mittel?)
Fliehen oder Nachgeben sind zwar mildere Mittel, man muss allerdings nie fliehen oder nachgeben bei Notwehr. (stand your ground)
Das mildeste Mittel, welches den Angriff sicher abgewehrt hätte ist gesucht.
(3) Verhältnismässigkeit bei Notwehr
Bei der Notwehr braucht es nur eine Missbrauchskontrolle. D.h. wenn kein krasses Missverhältnis zwischen der Gefahr und der überspitzten Abwehr erfolgte kein Missverhältnis.
Bsp. Für Missverhältnis: Jugendliche klauen Birnen, Bauer erschiesst sie.
2. rechtfertigender Notstand Art. 17
Notstand nur zum Schutz von Individualrechtsgütern. Notstand richtet sich gegen einen Dritten
- Tatbestand
- Rechtswidrigkeit
- Rechtfertigender Notstand
- Notstandslage (ex ante zu betrachten – aus der Sicht eines vernünftigen Dritten in dieser Situation)
- Unmittelbare Gefahr für ein Rechtsgut des Täters oder eines Dritten (1)
- Erforderlichkeit der Abwehrhandlung (Nicht anders abwendbar) (2))
- Abwehrhandlung zur Wahrung höherwertiger Interessen (Güterabwägung (3))
- Handeln mit Rettungswillen (subsidiäres Verhalten)
- Notstandslage (ex ante zu betrachten – aus der Sicht eines vernünftigen Dritten in dieser Situation)
- Rechtfertigender Notstand
- Schuld
- ggf. sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
(1) Unmittelbare Gefahr für ein Rechtsgut des Täters oder eines Dritten
Die Notstandslage ist schon früher erreicht als die Notwehrlage und auch eine Dauergefahr kann eine Notstandslage begründen.
Dabei ist wichtig die Situation «ex ante» zu betrachten, d.h. so wie ein dritter, vernünftiger Mensch in seiner Situation die Lage aufgefasst hätte. Ob schlussendlich wirklich eine Gefahr eingetreten ist, spielt keine Rolle Im Nachhinein zu kommen und sagen «das war doch gar nicht gefährlich» geht eben nicht. Andererseits darf eine Notstandslage auch nicht begründet werden, weil jemand übermässig hysterisch oder ängstlich ist.
(2) Nicht anders abwendbar
Kreatives überlegen, was der Notstandstäter noch hätte tun können, um die Gefahr anders abzuwenden. Bsp. Weglaufen, deeskalieren, Hilfe holen, andere Mittel einsetzen. Nur wenn keine andere Möglichkeit vorhanden war, die denselben Erfolg erzieht hätten ist die Gefahr nicht anders abwendbar.
(3) Kriterien bei der Güterabwägung: (RG1 vs. RG2)
- Wertigkeit des Rechtsguts (Leben wichtiger als Vermögen)
- Umfang und Bedeutung des Schadens (1mio CHF vs. 50 CHF)
- Grad der Gefährdung (hohes Risiko, dass Erfolg eintritt oder kleines Risiko)
Aggressivnotstand |
Aktives Eingreifen in das RG eines Dritten. (Art. 701 ZGB) man braucht sehr gute Gründe damit man immer noch gerechtfertigt wird. |
Defensivnotstand |
Defensive Abwehrhaltung gegen die Gefahrenquelle direkt (Art. 57 OR) |
3. Wahrnehmung berechtigter Interessen
- Tatbestand
- Rechtswidrigkeit (Es erfolgte kein direkter Angriff)
- Wahrnehmung berechtigter Interessen
- Schutz von Allgemeininteressen (1)/ Herstellung von sozial erwünschtem Zustand (2)
- Eignung, Erforderlichkeit (3) und Verhältnismässigkeit
- Wahrnehmung berechtigter Interessen
- Schuld
- ggf. sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
(1) Allgemeininteressen
keine Individualinteressen, sondern Interessen der Allgemeinheit oder der Gesellschaft. Z.B. Klima, Naturschutz, Öffentliche Ruhe, funktionierender Rechtsstaat.
(2) Herstellung eines sozial erwünschten Zustandes
z.B., dass Straftäter verfolgt werden, dass die Presse keine Falschaussagen macht.
(3) Erforderlichkeit
Sehr hohe Hürde, da meist noch viele Mittel zur Verfügung stünden, da kein direkter Angriff erfolgt. Somit hat man Zeit eine sanfte Lösung zu finden.
4. Einwilligung als Rechtfertigungsgrund
3 Formen der Einwilligung
4a) Einwilligung |
Das Opfer ist mit der Verletzung seiner Rechtsgüter einverstanden und hat das auch gesagt. |
4b) Mutmassliche Einwilligung |
Man konnte das Opfer nicht fragen, man geht aber davon aus, dass es eingewilligt hätte. |
4c) Hypothetische Einwilligung |
Das Opfer hat zwar nicht eingewilligt, hätte man es aber richtig aufgeklärt, hätte es bestimmt eingewilligt. |
4a) Einwilligung
- Tatbestand
- Rechtswidrigkeit
- Einwilligung
- Erklärung der Einwilligung («hat er» vor Tat und nach aussen erkennbar eingewilligt?)
- Verfügungsbefugnis («darf er» einwilligen? (1))
- Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Einwilligenden («kann er» die Folgen abschätzen? (2))
- Keine Willensmängel («will er» Ernsthaftigkeit, Freiwilligkeit, Irrtumsfreiheit)
- Handeln in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung (Einwilligung muss bekannt sein)
- Einwilligung
- Schuld
- ggf. sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
(1) Verfügungsbefugnis, darf er einwilligen?
Man darf nur in die Verletzung von eigenen Individualrechtsgütern einwilligen. Nicht für Individualrechtsgüter anderer Personen oder Allgemeinrechtsgüter, wie die Wahrung sozial erwünschter Interessen.
Man kann nicht in die eigene Tötung (Art. 114) oder schwere Körperverletzung (Art. 122) einwilligen.
Medizinische Indikation: Wenn es medizinisch Sinn macht, kann auch eine schwere Körperverletzung eingewilligt werden. Z.B. Amputation des Armes.
(2) kann er die Folgen abschätzen?
Ein Kind oder eine geistig behinderte Person kann das eventuell nicht.
<12 Jahre Einwilligung (-) |
12 – 16 Jahre Einwilligung (-/+) |
>16 Jahren Einwilligung (+) |
Eltern können Einwilligen |
Kommt auf Kind/ Situation an |
Kind genügend alt |
4b) Mutmassliche Einwilligung
- Tatbestand
- Rechtswidrigkeit
- Mutmassliche Einwilligung
- Nichteinholbarkeit der Einwilligung (z.B. bei Narkose)
- Verfügungsbefugnis des Rechtsgutsträgers (gleich wie bei Einwilligung)
- Rechtsgutsträger hätte zugestimmt
- Handeln in Kenntnis und aufgrund er objektiven Rechtfertigungslage (Handeln nur aufgrund der mutmasslichen Einwilligung, Überlegung wurde in die Situation gesteckt)
- Mutmassliche Einwilligung
- Schuld
- ggf. sonstige Strafbarkeitsvoraussetzungen
Einverständnis
Einverständnis ist eine Art Einwilligung, welche bereits Element des Tatbestandes ist. Z.B. bei Betreten eines Hauses eines Freundes, das wäre Hausfriedensbruch, der allerdings durch Einverständnis eben nicht Hausfriedensbruch ist.