Verwaltungsrechtspflege und -Gerichtsbarkeit
Verwaltungsrechtspflege und -Gerichtsbarkeit befasst sich mit Fragen bzgl. in welchen Fällen man an welche Beschwerdeinstanz und an welches Gericht gelangen kann.
Erst seit 2007 besteht in der Schweiz eine umfassende Möglichkeit ans Gericht zu kommen, früher war oft die Exekutive die letzte Instanz. Der Art. 29a BV ist die Rechtsweggarantie.
Art. 13 und 6 EMRK ermöglichen ein Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) und Anspruch auf Beurteilung durch ein Gericht (Art. 6 EMRK).
Art. 29a BV ist die Schweizer Rechtsweggarantie. Sie geht weiter als die EMRK-Normen. Art. 29a BV gibt Anspruch auf mindestens einmalige Beurteilung aller Sachverhalts- und Rechtsfragen durch ein Gericht. Es ist jedoch keine Garantie ans BGer zu kommen.
Art. 30 BV gibt einen Anspruch auf ein unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht. Abs. 3 Auf eine öffentliche Verhandlung und Urteilsverkündung
Übersicht
- Unterschiedliche Rechtsmittel
- Verwaltungsinterne Rechtspflege
- Verwaltungsgerichtsbarkeit
- Verfassungsgerichtsbarkeit
Unterschiedliche Rechtsmittel
Die Rechtsmittel werden in förmliche- (stärkere) und formlose Rechtsmittel (schwächere) unterschieden. Rechtsmittel können devolutiv oder nicht devolutiv sein. Devolutiv bedeutet, dass die Streitsache an die nächsthöhere Instanz weitergezogen wird.
Förmliche Rechtsmittel
Verpflichten die Rechtsmittelinstanz zur Behandlung und Erledigung durch ein Urteil
z.B. Verwaltungsbeschwerde, Rekurs, Einsprache und Revision.
Formlose Rechtsbehelfe
Man bekommt keinen sicheren Rechtsschutzanspruch. Das Gesuch oder die Beschwerde kann abgelehnt werden. («Nein, wir erwägen den Fall nicht nochmals neu»)
z.B. Aufsichtsbeschwerde, Wiedererwägungsgesuch
Verwaltungsinterne Rechtspflege
Die Verwaltungsbehörde entscheidet und nicht ein Gericht. Meist muss man 1-2 Instanzen innerhalb der Verwaltungsbehörde durchlaufen, bis man dann an ein Gericht kommt.
Entscheide eines Verwaltungsgerichts können reformatorische oder kassatorische Wirkung haben.
Reformatorische: Gericht stellt Fehler fest und entscheidet neu anschliessend.
Kassatorische: Gericht stellt Fehler fest, hebt den Entscheid auf und weist and die Vorinstanz zurück.
Entscheide eines Verwaltungsgerichts sind nicht an die Parteibegehren gebunden. D.h. Das Gericht kann zugunsten oder unter gewissen Voraussetzungen zuungunsten von dem abweichen, was die Partei fordert.
Rechtsmittel
Verwaltungsbeschwerde
Es handelt sich um ein förmliches Rechtsmittel, mit dem man Verfügungen anfechten kann. Beschwerdegründe sind: Rechtswidrigkeit der Verfügung, unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts, Unangemessenheit.
Einsprache (Spezialgesetze wie 52 ATSG)
Eine Einsprache ist ein förmliches Rechtsmittel, mit dem man die Verfügung bei der Verfügenden Behörde zu einer Neubeurteilung angefochten wird. Man schreitet also nicht voran im Instanzenzug, sondern dreht eine extraschleife und versucht es bei derselben Behörde noch einmal (nicht devolutiv). Einsprachen sind teilweise der erste Schritt, den man gehen muss, bei einer Verfügung.
Revision (66 VwVG)
Revision ist ein förmliches Rechtsmittel. Wenn ein besonders schwerwiegender, ursprünglicher Fehler besteht, kann somit die Verfügung, welche formelle Rechtskraft hat doch noch mit der Revision aufgehoben oder geändert werden.
Revisionsgründe: Beeinflussung der Verfügung durch Straftat, Gutheissung der Beschwerde durch den EGMR, Auftauchen neuer Tatsachen/ Beweise.
Widererwägung (29 I BV)
Eine Widererwägung, als formloser Rechtsbehelf, ist ein Gesuch des Betroffenen an die Behörde die Verfügung zu prüfen.
Wenn sich die Umstände seit dem Erlass der Verfügung wesentlich geändert haben, hat man sogar einen Anspruch darauf abgeleitet aus Art. 29 Abs. 1 BV.
Aufsichtsbeschwerde (71 VwVG)
Formloser Rechtsbehelf, mit dem man bei einer Aufsichtsbehörde darum bittet, die Verfügung abzuändern, aufzuheben oder eine andere Massnahme zu treffen. Man muss keine persönliche Nähe haben zur Streitsache.
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Jetzt entscheidet nicht mehr die Verwaltungsbehörde (Exekutive) selbst, sondern ein Gericht. Man ist jetzt Verwaltungsextern.
Kennzeichen der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ein Streit aufgrund einer Verfügung.
Nachträgliche Verwaltungsgerichtsbarkeit (Standard)
Verwaltungsgericht urteilt als zweite oder dritte Instanz. Eben, weil man vorher die Beschwerde an eine Verwaltungsbehörde richten musste.
Ursprüngliche Verwaltungsgerichtsbarkeit (ganz selten)
Verwaltungsgericht urteilt als erste Instanz.
Schematische Übersicht der Verwaltungsgerichtsbarkeit
Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) (quasi BöA ans BVGer)
- Art. 31 VGG i.V.m. Art. 5 VwVG – Beschwerdeobjekt
Verfügungen gem. 5 VwVG, keine abstrakte Normenkontrolle - Art. 32 VVG – Ausschlussgründe und Subsidiarität
Ein Ausnahmekatalog, Art. 36 VGG besagt, dass eine andere Behörde vorgeht. - Art. 33 VGG – Vorinstanzen
Bundeskanzlei, Departemente, Bundesverwaltung, Anstalten und Betriebe des Bundes und ausnahmsweise kantonale Behörden oder der Bundesrat - Art. 37 VGG i.V.m. Art. 49 VwVG – Beschwerdegründe
Verletzung von Bundesrecht (Aller Stufen und Quelle: d.h. Bundesgesetze, Rechtsverordnungen, Pläne, ungeschriebenes Recht, self-executing VölkerrechtRechtsverletzung: Keine, oder falsche Anwendung einer richtigen Norm, Anwendung einer nicht einschlägigen Norm, Rechtswidrige Ermessensausübung)
Überschreitung/ Missbrauch des Ermessens (Rechtswidrigkeit)
Unrichtige oder unvollständige Ermittlung des Sachverhalts
Unangemessenheit (innerhalb des Ermessensspielraums unfair, aber kein qualifizierter Fehler) - Art. 37 VGG i.V.m. Art. 48 VwVG – Beschwerdelegitimation
Partei- und Prozessfähigkeit
Legitimation i.e.S. bei Privaten (Verfahren der Vorinstanz, besondere Berührtheit, Schutzwürdiges Interesse)
Legitimation von Gemeinwesen und Behörden (Behördenbeschwerde) (öPR ZF 3)
Legitimation von Verbänden (egoistische- und ideelle Verbandsbeschwerde) - Beschwerdefrist (Art. 37 VGG i.V.m. Art. 50 VwVG)
30 Tage nach Eröffnung der Verfügung, Jederzeitige Beschwerde bei Rechtsverzögerung und -Verweigerung gem. 46a VwVG, aber Grenze T&G. - Form und Inhalt der Beschwerdeschrift (Art. 37 VGG i.V.m. Art. 52,53 VwVG)
Unterschrift, Beweismittel, Begehren müssen begründet sein.
Art. 37 VGG ist eine Verweisnorm auf das VwVG. Dort ist in 44 ff. das Beschwerdeverfahren im Allgemeinen geregelt. Diese Art. finden nicht nur auf die Beschwerde beim BVGer, sondern auch beim Bundesrat (öPR ZF 2) Anwendung. Die Art. 38-42 VGG sind Spezialregelungen zur Beschwerde.
Im Anfechtungsobjekt «Verfügungen gem. 5 VwVG» enthalten sind auch die in Abs. 2 aufgezählten Spezialformen, sowie Allgemeinverfügungen
48 II VwVG (BVGer und BR) ist das Äquivalent zu 89 II BGG (BGer). Beim BGer sind aber mehr Beschwerdelegitimierte aufgelistet (vgl. 89 II lit. a-c) (öPR ZF 3)
Noven
Noven sind Rechtsbegehren, Tatsachen oder Beweismittel, sowie rechtliche Begründungen, welche vor der Vorinstanz nicht vorgebracht wurden. Das Vorbringen von neuen Rechtsbegehren ist nicht möglich, Tatsachen, Beweismittel und rechtliche Begründungen dürfen vorgebracht werden
Verbandsbeschwerde
«Verband» kann jede juristische Person sein, die statutarisch zur Wahrung der betroffenen Interessen berufen ist. I.d.R. trifft dies aber nur auf Vereine (60 ff. ZGB) zu.
Verband als Verfügungsadressat
Der Verband wird wie eine Privatperson behandelt.
Egoistische Verbandsbeschwerde
Schutz vieler individueller Interessen der Mitglieder. Sie ist nicht gesetzlich geregelt.
Verband muss gemäss Statuten zur Wahrung der betroffenen Interessen berufen sein und die Interessen einer beträchtlichen Anz. Mitglieder müssen betroffen, und damit selbst legitimiert sein.
(Quasi eine Bündelung von Individualbeschwerden, alle müssen einzeln betroffen sein.)
Ideelle Verbandsbeschwerde
Schutz öffentlicher Interessen.
Beschwerdeberechtigung besteht ausnahmsweise gestützt auf eine gesetzliche Grundlage z.B. 55 USG (Umweltschutzgesetz) / NHG (Natur- und Heimatsgesetz)
Entscheid des BVGer
Das BVGer trifft, wie alle Gerichte, zuerst einen formellen Entscheid, ob die Rechtsstreitigkeit überhaupt materiell geprüft wird (Eintretens- oder Nichteintretensentscheid). Auch möglich ist ein Abschreibungsentscheid, wenn die Beschwerde zurückgezogen wird, Klageanerkennung, gerichtlicher Vergleich oder weil der Streitgegenstand/ Rechtsschutzinteresse dahinfällt.
In einem zweiten Schritt wird der materiell-rechtliche Entscheid getroffen. Es hat die Wahl zwischen Gutheissung (Kläger bekommt was er will) und Abweisung (Kläger bekommt nicht was er will)
Möglich sind reformatorische und kassatorische Entscheide (siehe oben)
Es besteht wie bei Entscheiden des Bundesrates gem. 72 ff. VwVG keine Bindung an Parteibegehren, d.h. Offizialmaxime gilt. Reformation in melius ist immer zulässig, reformatio in peius nur unter bestimmten Voraussetzungen. (öPR ZF 2)
Verfassungsgerichtsbarkeit
Verfassungsgerichtsbarkeit heisst, dass ein Gesetz, Internationaler Vertrag, Entscheid oder Verfügung verfassungswidrig ist.
Verfassungsmässige Rechte können weder mit der BöA, noch mit der Beschwerde ans Bundesverwaltungsgericht gerügt werden, sondern nur mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde
Mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde können gem. Art. 116 BGG nur verfassungsmässige Rechte angefochten werden. Wenn z.B. normales Bundesrecht beim Ausnahmekatalog scheitert, kann man immer noch rügen der Entscheid der Vorinstanz verstosse gegen das Willkürverbot (Art. 9 BV)
Angemessenheit und falsche Sachverhaltsfeststellung können ausschliesslich am Bundesverwaltungsgericht angefochten werden und nicht beim BGer.